Dienstag, 4. Januar 2011

Der verletzte Stolz - Über die Ausschaltung der Bürger in Demokratien

Wann immer Politiker und Politologen sich über den Zustand einer modernen res publica Gedanken machen, drängen Reminiszenzen an das alte Rom sich auf. Das widerfuhr auch jüngst dem glücklosen deutschen Außenminister, als er, um den in seinen Augen allzu üppigen Sozialstaat unseres Landes zu kritisieren, auf den Gedanken verfiel, die heutigen Verhältnisse mit den Niederungen der römischen Dekadenz zu vergleichen. Welche Vorstellungen er hiermit verband, konnte nie genau ermittelt werden. Vielleicht waren dem Gast an der Spitze des Auswärtigen Amts vage Erinnerungen an das System des kaiserzeitlichen Plebs-Managements durch Gladiatorenspiele in den Sinn gekommen, möglicherweise dachte er auch an die obligatorischen Getreidespenden für die arbeitslosen Massen der antiken Metropole. Beides wären Nachklänge des hastigen Geschichtsunterrichts, den die meisten deutschen Gymnasiasten des Jahrgangs 1961 (Westerwelle u. a.) genossen. Sie enthalten nichts, was zu Besorgnis Anlass gäbe.

Der Hinweis auf die römische Dekadenz im Mund eines deutschen Politikers aber war nicht nur ein Symptom von standesgemäßer Halbbildung. Er war auch nicht bloß ein Symptom von verbalem Draufgängertum, das bei einer gewissen Klientel Eindruck machen sollte. Er enthielt eine Reihe von gefährlichen Implikationen, denen der Redner ohne Zweifel ausgewichen wäre, hätte er sie sich bewusst gemacht.

Das römische Brot-und-Spiele-System war ja nicht weniger gewesen als die erste Ausgestaltung dessen, was man seit dem 20. Jahrhundert als "Massenkultur" bezeichnet. Es symbolisierte die Wende von der gravitätischen Senatorenrepublik zum postrepublikanischen Theaterstaat mit einem kaiserlichen Mimen im Zentrum. Dieser Übergang war unausweichlich geworden, seit das römische Imperium nach seiner Konversion zur caesarischen Monarchie mehr und mehr auf die Eliminierung von Senat und Volk aus der Regelung der öffentlichen Angelegenheiten zusteuerte. In dieser Sicht war die römische Dekadenz nichts anderes als die Kehrseite der politischen Bürgerausschaltung: Während die Reichsverwaltung sich zunehmend in Formalien verstrickte, setzte sich auf der Seite der Unterhaltung - namentlich in den Arenen rund um das Mittelmeer und bei den Festen der metropolitanen Oberschicht - der Trend zur Verrohung und Enthemmung durch. Das Miteinander von Verwaltungsstaat und Unterhaltungsstaat antwortete auf einen Weltzustand, in dem die Machtausübung nur noch durch die weitgehende Entpolitisierung der Reichspopulationen gesichert werden konnte.

Vom römischen Machtkomplex zu neomonarchischen Verhältnissen
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